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Holacracy verstehen – Wo „Schattenorganisation“ ist, da muss auch Licht sein
veröffentlicht am 27.01.2024

Mitte Januar ist mein erstes Buch, „Holacracy verstehen. Kritik – Wissenschaft – Praxis“, im Schäffer Poeschel Verlag erschienen.

Eine Kritik an der Holacracy Kritik

Darin setze ich mich – wie der Titel schon sagt – mit dem aktuellen Stand der Forschung zu Holacracy auseinander, insbesondere mit den Befunden aus dem Buch „Schattenorganisation“ von Stefan Kühl, welche ich als repräsentativ für ähnlich lautende Kritiken an Holacracy behandele, die man in der Literatur und dem Internet finden kann. Diese ergänze ich durch weitere Kritikpunkte an Holacracy, die andere Autoren in die Diskussion eingebracht haben.

Kühl wirft einen kritischen Blick auf fünf holakratische Organisationen, die er und sein Forschungsteam beforschen konnten und vergleicht Anspruch und Wirklichkeit der Methode. Seine Analyse ergibt ein negativ gefärbtes Bild mit allerlei Schwierigkeiten wie Hyperformalisierung, Schattenstrukturen, Meeting-Erosion und dergleichen.

Als Holacracy Master Coach habe ich einige Fragen und Anmerkungen zu den Ergebnissen, die ich in meinem Buch aus der Innensicht eines Praktizierenden im Detail diskutiere. Was können Ursachen für die beobachteten Muster sein und welche Konsequenzen ergeben sich dadurch für die holakratische Praxis?

Ich unterscheide dabei bloße Missverständnisse der Praxis von ernsthaften Fehlentwicklungen, die aus mangelnder Praxisreife, bzw. durch die Fortführung alter Muster, oder zwangsläufig als unbeabsichtigte Nebenfolge des Systems entstehen, und biete konkrete Handlungsempfehlungen für jeden dieser Fälle an, die aus meiner Sicht alle Holacracy-Praktizierenden zumindest zur Kenntnis nehmen sollten.

Ein Rätsel bleibt in Kühls Buch jedoch ungelöst: Warum gibt es überhaupt Organisationen, die ernsthaft Holacracy praktizieren und die Praxis schätzen? Mit anderen Worten: was sind die Vorteile? Gibt es überhaupt welche? In „Schattenorganisation“ wird man jedenfalls nicht fündig.

Polaritätsmanagement

Doch, wie ich in „Holacracy verstehen“ zeige: wo „Schattenorganisation“ ist, da muss auch Licht sein. Unter Zuhilfenahme der Theorie des „Polaritätsmanagements“ nach Barry Johnson kann man Kühls Befunde innerhalb eines umfassenderen Kontexts der Vor- und Nachteile zentraler Polaritäten in Organisationen rekonstruieren. Das sind z.B. Polaritäten wie Zentralisierung – Dezentralisierung, Formalität – Informalität, oder Transparenz – Vertraulichkeit.

Grundsätzlich ist es einigermaßen bekannt, dass jede Organisation eine gute Form finden muss, um sinnvoll mit diesen Polaritäten umgehen zu können. Aufgrund der Universalität des Problems ist es daher überaus nützlich für OE-Experten, mit Johnsons Framework des Polaritätsmanagements vertraut zu sein, um auf der Höhe der Zeit zu sein.

Beispiel-Abbildung: Polarität von Formalität und Informalität mit ihren positiven (+) und negativen (-) Aspekten. Überbetonung eines Pols führt dazu, dass er sich in sein Gegenteil verkehrt, wodurch der Wechsel auf die andere Seite (L/R) attraktiv wird. Die Bewegung zwischen den Polen ist ein System in einer Unendlichkeitsschlaufe, das nicht „gelöst“, sondern nur besser oder schlechter gemanagt werden kann.

Kein Pol alleine ist die „Lösung“ – weder Dezentralisierung, noch Informalität, noch Transparenz – genausowenig, wie deren Gegenteile das „Problem“ sind. Durch Überbetonung eines einzelnen Poles (und Missachtung seines Gegenstücks) handelt man sich unweigerlich dessen Nachteile ein. Man kann Polaritäten zwar nicht „lösen“, aber man kann sie geschickt managen, so dass man jeweils die Vorteile eines Pols und seines Gegenpols genießen kann und nur wenig Zeit in den Nachteilen der beiden Pole verbringen muss.

In meinem Buch zeige ich zudem anhand vieler Beispiele, dass Holacracy ein hervorragendes Grundgerüst bietet, um in diesem Sinne eine Vielzahl von zentralen Polaritäten von Organisationen optimal managen zu können, weil die dafür notwendigen Elemente bereits in den Strukturen und Regeln eingebaut sind.

Wenn man jedoch den Blick verengt und nur die negativen Aspekte der jeweiligen Polarität, z.B. von Formalität – Informalität, ins Auge fasst, dann sieht man zwar „Hyperformalisierung“ und „Schattenstrukturen“, aber es entgehen einem z.B. Rollenklarheit und die Freiheit, den Purpose der eigenen Rolle frei auszulegen. Was die Forscher gefunden haben, ist daher nicht falsch – es ist lediglich die Hälfte des Gesamtbildes, für das sie sich interessiert haben. „True, but partial“ – wahr aber nur Teil einer größeren Wahrheit.

Ist legitim – aber absichtlich beschränkt. Die Redlichkeit gebietet es daher meiner Meinung nach, dass man zumindest klar macht, dass man nicht das Gesamtbild repräsentiert, sondern nur einen Ausschnitt davon: nur die Nachteile.

Antagonistische Synergie von Praxis und Forschung

Aus diesem Grund werfe ich in meinem Buch das Schlaglicht zurück auf die Forschenden und ihre Methoden. Vor dem Hintergrund eines „integralen methodologischen Pluralismus“ der verschiedenen Forschungsmethodologien, die uns Erkenntnis ermöglichen, versuche ich Größe und Grenzen der verwendeten Methode einzuordnen.

Welches Forschungsvorgehen inszeniert welche Art von Daten und welche Art von Daten auch nicht? Was ist insbesondere das Verhältnis von Daten, die aus der Außensicht durch teilnehmende Beobachtung erzeugt werden, im Verhältnis zu solchen, die sich aus der Innensicht von Praktizierenden durch aktive Teilnahme in der holakratischen Praxis zeigen? Wie können beide wahr sein und welche Rolle spielen Faktoren wie der individuelle oder kollektive Reifegrad der Holacracy-Praxis bei der Bewertung der Befunde?

Ferner geht es mir – anlässlich eines Buches wie „Schattenorganisation“ – auch um die Frage, wie das Verhältnis zwischen Organisationspraktikern und Organisationsforschern verbessert werden kann. In meinem Buch komme ich zu dem Schluss, dass Praxis und Forschung idealerweise als „antagonistische Synergie“ funktionieren sollten, d.h. dass wir die beiden Seiten als Polarität behandeln und konkrete Schritte unternehmen sollten, um sie besser zu managen.

Fazit

Wer an an einer differenzierten Auseinandersetzung mit Holacracy (oder was teilweise dafür gehalten wird) und der Kritik an dem Modell interessiert ist, wer Holacracy in der Praxis anwendet (oder anwenden will), wer Polaritäten in Organisationen besser managen lernen will, oder wer im Zeitalter von Social Media kein Bock mehr auf tragisch verkürzte, fragmentierte und polemisierende Sichtweisen hat, sondern Sehnsucht nach einem verbindenden Muster und einer wertschätzenden Diskurskultur verspürt, der sollte einen Blick in das Buch werfen.

Mehr Informationen, Leseprobe und Bestellmöglichkeit von „Holacracy verstehen“

veröffentlicht am 27.01.2024

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Dennis Wittrock, M.A.

Dennis Wittrock, M.A.

Zertifizierter Holacracy® Master Coach bei Xpreneurs (offizieller Holacracy Provider), sowie Partner bei encode.org, eine Beratungsfirma, die rechtliche, soziale und finanzielle Grundlagen für Selbstorganisation legt. Autor von „Holacracy verstehen„. Zuvor: interner Holakratie Coach bei Hypoport und Gründer und Co-Direktor der Integral European Conference

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