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Wenn “Digital Literacy” auf “Organizational Literacy” trifft
veröffentlicht am 05.10.2023

Die Digitalisierung erfordert eine grundlegende „Digital Literacy“, d.h. ein informationstechnologisches Grundwissen, das einen in die Lage versetzt, kompetent mit digitalen Technologien umzugehen, z.B. ein Smartphone oder einen PC zu bedienen, eine Email zu versenden, etc. So weit, so klar. Doch was ist eigentlich mit organisationalen Grundfertigkeiten? Um in einer sich (dank der Digitalisierung) ständig beschleunigenden Umwelt bestehen zu können, benötigen die Mitarbeitenden in Organisationen in zunehmenden Maße Fähigkeiten, nicht nur IN der Organisation sondern auch AN der Organisation arbeiten zu können. Es braucht eine grundlegende „Organizational Literacy“, um dieses Spiel mitspielen zu können.

Ich war kürzlich (25.-26.09.2023) als Referent zu Gast auf dem „Digital Culture Summit“ in Köln, der sich um die Frage drehte, wie Kulturinstitutionen den digitalen Wandel gut navigieren können, sowie welche Risiken und Chancen diese Transformation bieten kann. Unter dem Motto „Fit fürs Digitale“ haben sich dort rund 150 Vertreter aus Kunst, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft versammelt, um über die Auswirkungen des digitalen Wandels zu diskutieren. Ich war eingeladen im Panel zum Thema „Raus aus der Starre. Wie bewegen wir Organisationen?“ einen Impuls zu Holacracy geben dürfen.

Die Digitalisierung von Kulturgütern, ihre Präsentation und Aufbereitung für ein digitales Publikum, der technologische Wandel hin zum Einsatz von AI, Blockchain und Web 3.0 Technologien stellt eine massive gesellschaftliche Herausforderung dar, mit denen sich auch die Museen, Theater und Kultureinrichtungen auseinandersetzen müssen – ob sie wollen, oder nicht.

Digital Literacy

In vielen der Beiträge wurde deutlich, dass es in Zukunft auf alle Fälle sowohl auf Seiten des Publikums als auch auf Seiten der Kulturbranche neue Fähigkeiten braucht. So war beispielsweise die Rede von allgemeiner „Digital Literacy“, d.h. ein informationstechnologisches Grundwissen, das einen in die Lage versetzt, kompetent mit digitalen Technologien umzugehen, z.B. ein Smartphone oder einen PC zu bedienen, eine Email zu versenden, Dateien anzulegen und zu speichern, Logins anzulegen und zu verwalten, etc. Wie zu beobachten ist, überfordert das bereits heute so manchen Vertreter der älteren Generation – inklusive Museumsmitarbeiter. Doch da ist noch so viel mehr.

Web 3.0 und das Metaverse

Dr. Annette Doms gibt einen Überblick über Wellen des Internets

Die Geschichte des Internets wird heute rückwirkend in drei große Phasen aufgeteilt (wie Dr. Annette Doms das in ihrem Vortrag getan hat, s.o.). Das „Web 1.0“ war ein Internet statischer Webseiten (nur lesen). „Web 2.0“ war die Phase von Social Media, in der die User von passiven Empfängern zu Sendern wurden (lesen + schreiben). Der aktuelle Übergang zum Web 3.0 ist gekennzeichnet durch die Nutzung von kryptographischen Technologien und fälschungssicheren, dezentralen Datenbanken, auch bekannt als Blockchain-Technologie.

Die Blockchain erweitert die Gleichung zu „lesen + schreiben + besitzen“, denn durch diese Art von Datenbanken kann die Richtigkeit der Daten und somit der Besitzanspruch für digitale Güter durch jedermann nachgewiesen werden, was insbesondere bei digitaler Währung, Stichwort „Bitcoin“, und bei digitalen Kunstwerken, Stichwort „NFTs“, eine wichtige Rolle spielt.

Doch auch das Aufkommen des „Metaverse“, einer virtuellen Realität, die parallel zur physischen Welt existiert, wird aller Voraussicht nach ein wichtiger Aspekt des Web 3.0 werden. Firmen wie Meta arbeiten fieberhaft daran, die Hardware zur Marktreife zu bringen und können bereits beeindruckende Fortschritte zeigen.

Die KI-Revolution

Aktuell befinden wir uns offenbar im „Hockeyschläger Moment“ der KI-Revolution. Wenn man die exponentielle Wachstumskurve der Fähigkeiten von aktuellen KI Systemen wie Chat GPT, Dalle, Bard und wie sie alle heißen, ansieht, kann man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass wir uns gerade in der exponentiellen Phase befinden, in der die Kurve steil nach oben ausbricht – mit allen unvorhersehbaren Konsequenzen: positiver und negativer Natur.

Von Digital Literacy zu Organizational Literacy

Sowohl „traditionelle“ digitale Technologie, die Benutzung eines Computers, eines Smartphones, des Internets, aber auch neuerer Technologie, wie Social Media, der Blockchain, virtueller Realität oder von KI-Systemen brauchen also gewisse Skills. Neben einer allgemeinen „Digital Literacy“ also zusätzlich „Blockchain Literacy“ und „KI Literacy“.

Zudem führen die neuen Technologien zu einer Art von Beschleunigung. Information reist mit Lichtgeschwindigkeit, nahezu instantan. Die gefühlte Rate der Veränderung steigt rapide an, es kommt immer wieder zu neuen Brüchen und Disruptionen, die Menschen und Organisationen auf dem falschen Fuß erwischen.

Ich wurde auf den Digital Culture Summit eingeladen, um über Holacracy als neue Organisationsform zu sprechen, welche es Organisationen ermöglicht, dem digitalen Wandel mit einer komplett neuen Arbeitsform zu begegnen, die die klassische Managementhierarchie aufbricht und Entscheidungsbefugnis stattdessen über die gesamte Organisation verteilt.

Als ich all den anderen Speaker:innen lauschte, die über ihren verschiedenen „Literacies“ sprachen, da dämmerte mir, dass Holacracy der allgemeinen „Digital Literacy“ eine neue Befähigung an die Seite stellt, die man „Organizational Literacy“ nennen könnte.

Organizational Literacy

Unter „Organizational Literacy“ verstehe ich die Fähigkeit, die eigene Organisation weiterzuentwickeln. Diese Fähigkeit fehlt den allermeisten Menschen in konventionellen Organisationen. Sie wissen nicht, wie sie ihre Organisation mitgestalten können, geschweige denn, was sinnvolle Bausteine von Organisationen sind. In konventionellen Organisationen wird das Organigramm der Abteilungen von der Geschäftsleitung gebaut. Die Definition der Pyramide kommt von der Spitze der Pyramide selbst. Der Rest der Mitarbeitenden wird in der Regel dabei wenig bis gar nicht involviert.

Sie werden nicht nach ihren Ideen gefragt, obwohl sie mehr Informationen über ihre eigene Arbeit haben als die Geschäftsleitung. Und selbst wenn sie gefragt werden – sie haben nicht die Macht, selbst Veränderungen zu bewirken. Das ist eine maßlose Verschwendung von guten Ideen und Potenzial. Veränderungsprozesse laufen in konventionellen Organisationen zu zäh und brauchen zu viel Zeit – gemessen am disruptiven Tempo der Organisationsumwelt. Erfahrungsgemäß wollen Menschen mitmachen, wenn man sie denn nur lässt. Doch dafür braucht es einen unterstützenden Rahmen.

Die organisationale Formsprache von Holacracy

Holacracy ist ein solcher unterstützender Rahmen für organisationales Selbstmanagement. Die Praxis gibt jedem die Bausteine an die Hand, um selbst die Organisation mitzugestalten. Jede Person, die eine Rolle in einem Kreis ausfüllt, darf in ihrem Kreis Veränderungsvorschläge im „Governance Meeting“ einbringen. Holacracy bietet durch eine allgemeine Formsprache von organisationalen Strukturelementen allen Mitarbeitenden die Möglichkeit, neue Kreise, Rollen und Verantwortlichkeiten zu erschaffen und zu verändern.

Ferner können sie Modifikationen am Sinn und Zweck ihrer Rollen vornehmen und mithilfe von Domänen und Richtlinien Zugriff und Einwirkung auf bestimmte Bereiche der Organisation begrenzen und regulieren, wenn nötig. Ein integrativer Entscheidungsprozess sorgt dafür, dass diese Veränderungen am „Erbgut der Organisation“ keinen Schaden verursachen und dass relevante Einwände rasch und sicher integriert werden können.

Governance – dezentral, regelmäßig und für alle

Governance, d.h. die Steuerung der Organisation in Form von Strukturen, allgemeinen Regeln und wiederkehrenden Aufgaben, ist dann nicht mehr wie in konventionellen Organisationen bei der Geschäftsleitung zentralisiert, findet nur elitär an der Spitze und relativ selten statt. In Holacracy ist Governance stattdessen dezentral über die gesamte Organisation verteilt (jeder Kreis macht seine eigene Governance), findet regelmäßig statt (ca. zweiwöchentlich), und demokratisiert die Möglichkeit der Mitwirkung durch Ausdehnung auf alle Mitarbeitenden.

Alle dürfen an der Struktur der Arbeit selbst mitarbeiten, um diese in Ausrichtung auf den Sinn und Zweck der Organisation kontinuierlich zu verbessern und an neue Umweltbedingungen anzupassen. Alle erhalten mit Holacracy eine „Grundbildung“ in organisationaler Formsprache – echte „Organizational Literacy“, die sie zu mündigen Mitgestaltenden macht – innerhalb des Rahmens, den die Holacracy-Verfassung als Spielfeld absteckt.

Auf diese Weise gelingt es holakratischen Organisationen, die kollektive Intelligenz derjenigen Menschen besser zu nutzen, die am nächsten dran sind und die jeweilige Arbeit intim kennen. Gleichzeitig ermöglicht es ihnen, sich schneller auf wandelnde Umwelten und Anforderungen einzustellen – eine entscheidende Kapazität für Organisationen inmitten multipler technologischer Revolutionen und einer beschleunigten Rate der Veränderung.

Ähnlich wie die Demokratie als Regierungsform ihren Bürgen mehr Mitbestimmung zutraut als die Monarchie, so traut Holakratie als Organisationsform ihren Mitarbeitenden mehr Mitbestimmung zu als die klassische Managementhierarchie. Doch die Analogie geht noch weiter: Es braucht in einer Demokratie mehr Allgemeinbildung, damit die Menschen sinnvoll an der Regierung mitwirken können, als es das in einer Monarchie braucht. Ebenso brauchen Menschen, die holakratisch arbeiten, mehr Grundwissen über Organisation als Mitarbeitende in klassischen Managementhierarchien – „Organizational Literacy“.

Das bedeutet im Fall von Holacracy eine gewisse Grundinvestition in die Ausbildung der Mitarbeitenden – so wie auch das Bildungssystem in Demokratien mehr Zeit und Geld kostet, als dasjenige in Autokratien. Doch wenn man die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von Demokratien und Autokratien vergleicht, wird schnell deutlich, wer klug investiert und wer an der falschen Stelle spart.

Fazit

Wer heutzutage mit seiner Organisation bestehen will, sollte mehr Mitbestimmung und verteilte Entscheidungsbefugnis ermöglichen und entsprechend in die „Organizational Literacy“ der Organisation und ihrer Mitarbeitenden investieren.


Veröffentlicht am 03.10.2023 von Dennis Wittrock für Xpreneurs

veröffentlicht am 05.10.2023

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Dennis Wittrock, M.A.

Dennis Wittrock, M.A.

Zertifizierter Holacracy® Master Coach bei Xpreneurs (offizieller Holacracy Provider), sowie Partner bei encode.org, eine Beratungsfirma, die rechtliche, soziale und finanzielle Grundlagen für Selbstorganisation legt. Autor von „Holacracy verstehen„. Zuvor: interner Holakratie Coach bei Hypoport und Gründer und Co-Direktor der Integral European Conference

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