Der Orientierungswert fundamentaler Dualismen im Werk von Ken Wilber
oder: “Brille? – Wilber!”
Mir ist neulich ein Licht aufgegangen, als ich mir Gedanken über das notwendigerweise dualistische Wesen der Sprache gemacht habe. Besonders in seinen frühen Büchern reitet Wilber auf der Tatsache herum, dass sprachlicher und begrifflicher Ausdruck immer nur innerhalb des Bannkreises von Dualismen stattfindet. Wir können nicht aus begrifflichen Paaren heraustreten, die einander erst bedingen und ermöglichen. Das ist das begriffliche Gitter, das wir über die ungeteilte Wirklichkeit legen, aus welcher wir einige Aspekte herausgreifen und sprachlich voneinander trennen.
Das hier ist “links” und das hier “rechts”. Wuuuusch – schon erstreckt sich eine begriffliche Trennlinie quer durch den ganzen Kòsmos und spaltet ihn in zwei Hälften. Das geschieht natürlich nur in der Vorstellung, doch es bedarf der Betrachtung des eigenen Geistes durch den Geist, also des selbstreferentiellen Denkens, um diesen begrifflichen Charakter der Vorstellung zu verstehen und zu berücksichtigen. Andernfalls bewegt man sich innerhalb von Abstraktionen, ohne zu wissen, DASS man Sprache in dieser Weise verwendet. Man blickt auf die Welt durch seine begriffliche Brille, ohne zu wissen, dass man diese Brille trägt und welche Verzerrung der Sicht sie hervorruft. Es scheint ein Kennzeichen der reifen Schaulogik zu sein, dass sich der Begriff selber durchsichtig wird. In diesem Zusammenhang denke man beispielsweise an Hegel und Jean Gebser (“Transparenz”).
Wenn Sprache dem denkenden Geist als Sprache bewusst wird, dann führt das notwendigerweise zu kontextuellem Denken. Kontextuelles Denken ist sich der Tatsache bewusst, dass es, wenn es einen Sachverhalt sprachlich formuliert, immer eine Auswahl trifft und gewisse Kontexte ausblendet. Man weiß dann, das sich das Ganze nicht auf einmal ausdrücken lässt (weil dieses Ganze auch wieder nur ein Teil eines umfassenderen Kontextes ist), sondern dass Sprache letztlich immer nur Stückwerk bleibt. Dadurch kann der intensive Wunsch entstehen, über das begriffliche Denken und die damit verbundene Dualität hinaus zu gelangen.
Meine erste zentrale These lautet, dass die integrale Theorie, wie sie von Wilber vertreten wird, eine Bewusstmachung der fundamentalen Dualismen des begrifflichen Denkens darstellt. Sprache wird bei Wilber bis aufs Äußerste ausgereizt. Immer wieder weist sie auf jene magische Grenze des Unaussprechlichen, die mit Worten nicht zu überwinden ist. Welches sind nun diese fundamentalen Dualismen? Ganz einfach: innen und außen, individuell und kollektiv, Ganzes und Teil. In seinem Modell ergeben sich hieraus die vier Quadranten und Holons.
Wilber geht so dicht wie möglich an diese unhintergehbare Grenze und zieht diese grundlegendsten Entscheidungen heran, um Orientierung in das Denken zu bringen. Darin besteht – so meine zweite These- der enorme Orientierungswert, den diese fundamentalen Dualismen in einer integralen Theorie freisetzen. Man kommt in einer solchen Theorie nicht umhin zu fragen “Beziehe ich mich jetzt auf das Innen oder das Außen eines Sachverhaltes? Spreche ich darüber in individueller oder kollektiver Hinsicht? Betrachte ich den ‚Ganzes’-Aspekt oder den ‚Teil’-Aspekt dieser Angelegenheit?” Man macht sich einfach klar, welche Seite der dualistischen Gleichung man gerade ins Visier nimmt, wissend, dass es auch noch die andere Seite gibt, und akzeptierend, dass man im Rahmen der Sprache nicht beides gleichzeitig betrachten kann.
Hier liegt die Analogie zur Quantenphysik und zur Heisenbergschen Unschärferelation einfach nahe. Heisenberg stellte fest, dass man entweder die Position oder die Geschwindigkeit von Kleinstteilchen feststellen konnte, doch niemals beides zugleich. Die Wahl der begrifflichen Brille (Untersuchung in Hinsicht auf “Position”, oder in Hinsicht auf “Geschwindigkeit”) hat direkten Einfluß auf die Messergebnisse. Der bloss abbildende Betrachter der vorgegebenen Wirklichkeit – das lange Zeit gültige Reflexions-Paradigma – wurde plötzlich hinfällig. Die Wirklichkeit verändert sich durch unseren experimentellen Zugriff auf sie. Die moderne Physik wurde hierdurch auf ihre bislang unhinterfragten begrifflichen Voraussetzungen zurückgeworfen.
In Analogie zu dieser physikalischen Quantentheorie könnte man Wilbers Philosophie als eine Art integrale Quanten-Semiotik ansehen. Semiotik ist die Lehre von den Zeichen und integrale Semiotik bedeutet für Wilber die Einbeziehung des AQAL Modells, wobei Signifikate OL sind, Signifikanten OR, Syntax UR und Semantik UL. Die fundamentalen Dualismen Innen und Außen, individuell und kollektiv, Ganzes und Teil sind dabei nach meiner Auffassung die unhintergehbaren Quanten des Denkens überhaupt. Diese Quanten konstituieren alles weitere in der Noosphäre, doch sie selber entziehen sich der Beeinflussung.
Weiter kann man das Denken also nun bei bestem Willen nicht herunterbrechen. Das ist wirklich die Untergrenze des sinnvoll Sagbaren. Was fangen wir ohne diese fundamentalen Dualismen an? Richtig – gar nichts. Wir könnten nicht einen sinnvollen Satz formulieren. Daher “springt” die Wirklichkeit bei genauerem Hinsehen in einen der jeweiligen Quadranten und bietet sich als durch und durch holarchisch dar. Was sind Holons anderes als abrupte Quantensprünge in der Teil/Ganzes Dualität, je nach Massgaben der Tiefenschärfe unseres eigenen Denkens? Die Veränderung der Tiefenschärfe inszeniert und ko-kreiert eine jeweils andere Realität.
Wirklichkeit wird vom Beobachter mit-erschaffen und dieser Schöpfungsprozess kann sich nur innerhalb und vermittels der Dualität ausdrücken. Eine integrale Theorie ist ein umfassender Zugriff auf und somit auch ein umfassender Eingriff in die Wirklichkeit. Es ist GEIST-in-Aktion. Das ist die Ablösung des Reflexions-Paradigmas der einfachen Abbildung der Wirklichkeit durch das Enaktions-Paradigma der Inszenierung der Wirklichkeit, von dem bereits in E.K.L. die Rede ist. Letzteres ist auch wieder gnadenlos kontextuell strukturiert, denn um ein Untersuchungsergebnis adäquat interpretieren zu können, müssen die subjektiven, die objektiven, die interobjektiven und intersubjektiven Kontexte aus allen Quadranten herangezogen werden.
Ich habe meiner Philosophiedozentin einmal das Quadranten-Modell skizziert. Sie sagte daraufhin: “Das hat letztlich keinen explikativen Wert. Die Wissenschaften werden zwar innerhalb dieses Rahmens verortet, aber es wird nicht erklärt, wie diese Bereiche zusammenhängen.” Das hat mir zu Denken gegeben. Wilber gibt zwar Korrelationen zwischen den Inhalten der Quadranten an, z.B. zwischen OL und OR, doch man kann letztlich keine echte Verbindung erkennen. Sie stehen immer noch nebeneinander. Obwohl er immer wieder betont, dass sie sich gegenseitig beeinflussen und gemeinsam evolvieren, bleiben sie dem Anschein nach letztlich doch getrennt.
Ich denke, dass die Quadranten in der Tat miteinander unvereinbar sind – aus dem einfachen Grund, dass sie ja bereits immer schon Eins sind. Die vier Quadranten sind eine (sehr nützliche) Kombination fundamentaler begrifflicher Dualismen, die vier mögliche fundamentale Hinsichten auf die EINE Wirklichkeit konstituieren. Es ist eine verbesserte begriffliche Brille mit einer multiperspektivisch integrierenden optischen Linsenvorrichtung. Wenn man sie aufsetzt, sind die vier Linsen in ständiger Bewegung, um einem die Wechsel von einer Perspektive zur anderen Perspektive so bequem wie möglich zu machen.
Oder man stelle sich diese Brille als zwei vierseitige pyramidale Prismen vor, deren Spitzen in Richtung Welt zeigen. Man kann alles gleichzeitig im Blick halten, doch sobald man den Blick fokussiert, um die Details scharf zu sehen, befindet man sich mit seinem Blick in einem der vier Quadranten. Man kann jederzeit einen anderen Quadranten fokussieren (das ist ja das Gute an dieser neuen Brille), doch dann blendet man notwendigerweise die anderen drei Quadranten aus. Blickt man jedoch auf das Ganze der Szenerie, so springen einem die (begrifflichen) Brechungslinien unästhetisch ins Auge.
Man verstehe mich nicht falsch – ich bin ein absoluter Verfechter dieses Modells und zwar aus dem einfachen Grund, weil ich mir ziemlich sicher bin, dass dies das Beste ist, was ein dualistischer Blick auf die Wirklichkeit zu leisten vermag. Meiner Ansicht nach ist diese Brille ein wesentlicher Fortschritt gegenüber einer Brille mit nur einer Linse (beispielsweise nur OR – Szientismus) oder gegenüber einer Brille mit einer zersplitterten Linse (aperspektivische Verwirrtheit).
Doch glücklicherweise deckt die integrale Theorie nicht nur ALLE QUADRANTEN ab, sondern auch ALLE LEVEL. Hier gibt Wilber mit Nachdruck den Hinweis, dass wir nicht immer eine Brille aufgehabt haben (prä) und auch nicht immer nur auf das Tragen einer Brille beschränkt sind (trans).
Uff! Glück gehabt. Mit diesen monstermäßigen integralen Brillen sieht man nämlich manchmal aus wie ein Hirni, dessen Kopf durch das Gewicht der Seh-Konstruktion zu Boden gezogen wird – kopflastig eben. Wir dürfen sie getrost absetzen, doch sobald wir dazu ansetzen durchfährt uns Entsetzen: wir greifen ins Leere. Da ist plötzlich niemand mehr, der eine Brille trägt- statt dessen nur unser ursprüngliches Antlitz als transparente Klarheit- von Anbeginn an.
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