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Kommentar zu Adrian Strothottes Artikel “Mit Holacracy zur Purpose Driven Organization? Über die Grenzen eines Organisationsmodells“
veröffentlicht am 23.02.2021

„Ein Buch ist ein Spiegel, aus dem kein Apostel herausgucken kann, wenn ein Affe hineinguckt.“ – Georg Christoph Lichtenberg

Einführung

Auf dem Blog „Sozialtheoristen“ werden seit kurzem in mehreren Artikeln die Ergebnisse von Forschungsarbeiten in Bezug auf Organisationen vorgestellt, die mit Holacracy, bzw. Holakratie arbeiten. Da diese Artikel aus meiner Sicht als Holacracy-Coach einige Aspekte überbetonen und andere unterbetonen, möchte ich hier mit meinem Kommentar ein Korrektiv anbieten, der als Beitrag zur Debatte verstanden werden will. Freilich kann man mir da ein gewisses Maß an Befangenheit unterstellen. Eine solche Annahme ist nachvollziehbar und ich klammere sie mal ein. Gleichzeitig stellt es sich mir so dar, dass auf Seiten der Forschenden eine gewisse Befangenheit – und zwar in die andere Richtung – vorherrscht.

Die Holakratie wird meinem Anschein nach von den Organisationssoziologen als kühles, hyperformales, hyper-zweckrationales Modell verstanden, das den unordentlichen Faktor Mensch aus der Arbeit eliminieren will und sich auf diesem Weg in Naivitäten und Übertreibungen versteigt. Siehe dazu auch meinen Artikel „Holacracy ist keine Maschine.“ Prof. Dr. Stefan Kühl geht in einem Podcast sogar so weit zu sagen, dass man jetzt am besten schnell noch die Holakratie beforschen muss, weil sie seiner Einschätzung nach innerhalb der nächsten fünf Jahre Geschichte sein wird. Das ist eine überaus gewagte These und ich freue mich schon darauf, Prof. Kühl darauf in fünf Jahren noch mal anzusprechen, da ich stark vom Gegenteil ausgehe.

Ich sehe nämlich eine Parallele zwischen klassischer Software-Entwicklung und dem Aufkommen agiler Praktiken, sowie klassischen Organisationsformen und Holakratie. Am Anfang war es exotisch und schräg, heute ist es Mainstream. Meine Gegenprophezeihung, was die Zukunft der Holakratie betrifft, ist daher, dass sie einer ähnlichen Trajektorie folgen wird. Was heute noch schräg und exotisch ist, wird in fünf Jahren ziemlich normal und in vielen Branchen Standard sein. „Top, die Wette gilt!“ 🙂

Kommentar zum Artikel von Adrian Strothotte

Nun aber zum Artikel aus besagter Forschungsgruppe an der Uni Bielefeld. Der Verfasser ist Adrian Strothotte und der Titel ist „Mit Holacracy zum Purpose Driven Organization? Über die Grenzen eines Organisationsmodells.“ Ich empfehle den Artikel zunächst für sich und in Gänze zu lesen. Ich folge im Weiteren dem Textverlauf des Originaleintrages, wobei ich relevante Passage zitiere und jeweils meinen eigenen Kommentar beifüge. Ich habe mich bemüht, zugespitzte Thesen als Zwischenüberschriften für die angesprochenen Themen zu finden, um die zugrundeliegende Haltung zu charakterisieren, die den (bzw. die) Autoren vermeintlich antreibt. Man findet sie als implizite Arbeitshypothesen auch in anderen Publikationen der Forschungsgruppe wieder.

„Die kalte Unmenschlichkeit / pure Zweckrationalität der Holakratie“

Das von Brian Robertson entwickelte Organisationsmodell stellt den Purpose einer Organisation ins Zentrum. Die Menschen machen Platz für eine neue Form der Zweckrationalität.

Ich halte fest: Menschen werden meiner Erfahrung nach in der Holakratie nicht durch Zweckrationalität verdrängt.

Auch wenn Robertson in seinem Buch Holacracy einen humanitären Anstrich zu geben versucht, wird sehr schnell deutlich, dass es sich der Idee nach um ein hochgradig zweckrationales Organisationsmodell handelt. Das wird z.B. auch durch die angesprochene Trennung von Rolle und Person deutlich.

Ich würde weniger hart von der „Trennung“ von Rolle und Person sprechen, sondern eher von der „Differenzierung“. Was auseinander gerissen und getrennt wird, ist kaputt. Was hingegen voneinander „differenziert“ worden ist, kann hingegen auch wieder auf einer höheren Ebene integriert werden. Holakratie beendet die naive Fusion von Rolle und Person (im Vergleich zu klassischen Organisationen) durch Differenzierung, nicht durch Auseinanderreißen und Zerstören. Sprache setzt einen semantischen Rahmen und die Wahl der Worte ist mir hier wichtig.

In den rigide formalisierten holakratischen Meetings geht es nicht um die persönlichen Vorstellungen und Einwände der Mitarbeitenden, sondern ausschließlich um die Umsetzung des Organisationszwecks. Robertson verspricht sich davon eine Verbannung der zwischenmenschlichen Probleme aus der Organisation.

Die Holacracy-Praxis ist wesentlich realistischer als der Autor denkt. Zwischenmenschliche Probleme existieren. Wo immer Menschen arbeiten, werden Konflikte auftreten. Sie können nicht „verbannt“ werden, wie der Autor der Holakratie unterschieben will. (Er unterstellt Brian Robertson dadurch implizit, naiver zu sein als er selbst. Eine billiges „straw-manning“ der Holakratie. Ich vermisse im Kontrast dazu ein ernstgemeintes „steel-manning“ der Holakratie als ernstzunehmende wissenschaftliche Herangehensweise.) Es ist aber nicht der primäre Auftrag der Organisation, zwischenmenschliche Konflikte zu lösen. Es spricht jedoch absolut nichts dagegen, dass eine Organisation sich Rollen mit einem solchen Purpose schafft (die indirekt dadurch auch wieder dem Gesamtzweck dienen). Dieses Muster findet sich in vielen Organisationen und ich würde es holakratischen Organisationen auch empfehlen, weil es früher oder später ein Thema wird.

In kommenden v5.0 der Verfassung gibt es übrigens zudem neue Ansätze, um Beziehungsvereinbarungen zwischen Menschen zu formalisieren, sofern gewünscht. Das war auch schon früher möglich (via Ankerkreis-Richtlinie) und ein solche Muster wurde z.B. in mehreren Firmen im Kontext des Hypoport Firmennetzwerkes eingeführt. Allerdings macht es v5.0 den Praktizierenden leichter, indem sie ein solches Muster in die Verfassung vorprogrammiert (so dass sie es nicht erst selber erfinden müssen).

„Die Suche nach dem einen Zweck (Purpose), um sie alle zu knechten…“

“Zwecke und Mittel sind nicht strukturelle Vorgegebenheiten, die man zu finden und zu erkennen hätte, sondern Symbole für die Absicht, eine Handlung funktional zu analysieren, das heißt: mit anderen Möglichkeiten zu vergleichen.”[5]

Dieses Zitat von Niklas Luhmann aus dem Jahr 1964 gibt Anlass, die Idee von der holakratischen Suche nach dem einen Zweck zu hinterfragen.

In der Holakratie-Praxis suchen wir nicht nach „dem einen Zweck“. Das ist eine grobe Vereinfachung. Wir gehen im Gegenteil davon aus, dass der Purpose sich mit der Zeit weiterentwickelt, was der Autor später übrigens selber auch indirekt anerkennt – allerdings offenbar nur, um dann wiederum das als Inkonsequenz des Modells hervorzuheben. Es ist offenbar schwer, diesen Forscher zufrieden zu stellen.

„Die unendliche Formalisierungshybris der Holakratie, a.k.a. Regelungswahn“

Genauso wie weite Teile der alten (und auch neuen) Organisationstheorie den ambitionierten Zwecksetzungen der Organisationen aufsitzen, tut dies auch Holacracy. Man gibt sich der Vorstellung hin, über alle „Entscheidungsprämissen“[6] innerhalb der Organisation entscheiden zu können. Das große Vertrauen in den Prozess, der soziologisch als Formalisierung bezeichnet wird, findet sich in der oftmals großen Menge an Rollen, Rollenbeschreibungen, Meetingvorgaben und Policies einer Holacracy wieder. Es wird davon ausgegangen, jegliche Arbeit, die anfällt, durch Zielvereinbarungen steuern zu können.

Nein, das ist unzutreffend. Es trifft zu, dass man davon ausgeht, dass man durch Governance grundsätzliche Erwartungen an Rollenfüller explizieren kann, nicht „jegliche„.

Doch ein ebensogroßes Gewicht kommt der Autonomie und dem Urteilsvermögen des einzelnen Mitarbeiters zu, welchem zugestanden wird, die (notwendig existierenden) Leerstellen ausfüllen zu können – damit man eben nicht alles bis ins kleinste Detail ausbuchstabieren muss.

Die Aspekte der Rollenautonomie und Selbstorganisation werden hier also unterbeleuchtet. Diese Aspekte machen die Holakratie aber gerade so pragmatisch und unbürokratisch. (Frage am Rande: ist Holakratie jetzt eigentlich „zu bürokratisch“ oder „post-bürokratisch“? Das scheint ein Widerspruch zu sein. Die Einschätzung und Bezeichnungsweise der Forschungsgruppe an der Uni Bielefeld habe ich noch nicht so genau verstanden…).

Man sollte sich durch die sichtbaren Artefakte der Governance Aufzeichnungen und der Holakratie-Verfassung nicht dazu verleiten lassen, zu glauben, dass Holakratie maximal alles formalisieren will. Das genaue Gegenteil ist der Fall.

Gute Praxis bedeutet nur dasjenige aufzuschreiben, ohne dass es absolut nicht geht, d.h. wo das Fehlen einer formalen Erwartung erfahrungsgemäß zu Problemen führt. Schlechte Praxis bedeutet, lange Listen von Richtlinien, Rollen, und Accountabilities zu schreiben, die nicht auf eine konkrete Spannung zurückführbar sind, die eine solche Explikation rechtfertigen. Man sieht das auch oft bei dem Anfängerfehler der anlasslosen Definition von Domänen für Rollen.

Ich wiederhole hier noch mal einen Punkt, den ich auch schon woanders deutlich gemacht habe: man sollte frühe, unreife Holakratie-Praxis nicht zum Maßstab erheben um zu beschreiben, was Holakratie ist und, dass das so ja nicht funktionieren kann. Die Einschätzung über Stadien der Praxisreife ist aber zugegebenermaßen eine Innensicht, die dem Nicht-Praktizierende nicht ohne weiteres zur Verfügung steht. Von außen beschreibbare Dauer der Praxis in einer Organisation ist da nur von begrenzter Aussagekraft, da sich auch hier Muster schlechter Praxis eingeschliffen und fortgesetzt haben können, die dem nicht-Könner (dem Forscher mit der Außensicht) nicht als solche auffallen. (Wenn ich nie selber Golf gespielt habe, kann ich zwar durchaus als Fernsehkommentator für Golf-Turniere auftreten und beschreiben, was ich da sehe, aber meinem Kommentar der Geschehnisse wird eine gewisse Praxis-Einsicht abgehen. Besser wäre, ich hätte zusätzlich dieses Sicht zur Verfügung.)

Ich würde daher einen Mix von Forschungs-Methoden empfehlen, der eine Repräsentation der Innensicht auf die Holakratie aus Sicht eines reifen Praktizierenden oder Coaches mit umfasst, um Verzerrungen in der Interpretation der Forschungsergebnisse zu minimieren und zu einer ausgewogeneren Einschätzung zu gelangen. Die Außensicht alleine ist m.E. zu kurz gesprungen.

Stehen keine formalen Vorgaben zur Verfügung, soll der Purpose allein das Verhalten anleiten alles was dem Purpose dient und nicht explizit abgelehnt wird, ist erlaubt und bekommt so einen semi-formalen Anstrich. Man könnte sagen: Steuerungspessimismus sieht anders aus.

Der Purpose allein kann das Verhalten natürlich nicht anleiten. Wieder fehlt hier das Verständnis, dass das Urteilsvermögen des jeweiligen Rollenfüllers, das explizit durch die Verfassung eingeladen (ja, dessen Benutzung gar eingefordert wird) hier die Leerstelle ausfüllt. Der Rollenfüller „energetisiert“ (Holacracy-Sprech) die Rolle, haucht der formalen Hülle quasi ihr Leben ein. Insofern mag der Mantel durch die formale Organisation vorgegeben sein, doch wo er Beulen wirft, wird maßgeblich durch die Person und ihre Fähigkeiten bestimmt. 

Das Spektrum der Fähigkeiten ist natürlich groß. Der Lead Link Rolle kommt daher standardmäßig die Aufgabe zu, die Passung zwischen Rollenfüller und Rolle im Sinne der Organisation zu überwachen und ggf. einzuschreiten und eine neue Person zu finden, die besser die Anforderungen der Rolle erfüllt.

„Holakratie betreibt ‚Purpose-Washing‘, um den Mitarbeiter möglichst mit Haut und Haaren vereinnahmen und ausquetschen zu können“

Der Purpose wird explizit dafür eingesetzt, die Mitarbeitenden zu motivieren. Auch aus theoretischer Perspektive ist das hochgradig plausibel. Wenn Organisationen von ihren Mitgliedern, ein Mehr an „Leistungsmotivation“[11] erwarten oder sie geringer bezahlen wollen, müssen sie attraktive Tätigkeiten oder Zwecke anbieten. Es genügt demnach nicht, einen angeblich inhärenten Zweck nur noch auszuflaggen, sondern er wird sehr wahrscheinlich so formuliert, dass er Menschen anspricht. Diejenigen in der Organisation, die sich jedoch mit einer Motivation jenseits des eigentlichen Purpose trotzdem in der Organisation einfinden, nimmt Holacracy nicht wahr.

Wenngleich eine weitgehende Überlappung zwischen den Zwecken der Organisation und den Zwecken des Mitarbeiters sicherlich in hohem Maße für einen gesteigerten Output förderlich ist, ist man in der Holakratie im Grunde agnostisch gegenüber der persönlichen Motivation, mit der jeder Rollenfüller seine Rolle füllt. Ob aus hehren Zielen oder der schieren Notwendigkeit Geld zu verdienen, um die Familie zu ernähren – solange eine Person ihre Rolle gut erfüllt, ist es in Holakratie ziemlich schnuppe, warum sie das macht und was sie antreibt.

Holakratie hält sich aufgrund der Differenzierung von organisationaler und personaler Sphäre gerade heraus aus dem Innenleben der Mitarbeiter. Das ist ja genau der Grund, weshalb ihr immer wieder (nicht ganz zu unrecht) eine kühle Indifferenz und Zweckrationalität attestiert wird. Wohingegen manche Beobachter das Fehlen einer solchen Einmischung beklagen, scheint der Autor der Auffassung zu sein, dass die holakratische Organisation hier gierig ist und den einzelnen mit Purpose lockt, nur um ihn dann mit Haut und Haaren verschlingen und auch noch das letzte Maß an persönlicher Motivation und Leistungsbereitschaft herauskitzeln zu können.

Es scheint mir immer mehr, als wenn Holakratie ein Buch ist, in das man alles hineinlesen und alles hinauslesen kann – je nachdem, von wo man schaut (ich schließe mich da durchaus ein). Vielleicht ist es wirklich so, wie Brian Robertson sagt, dass „Holakratie einem den Spiegel vorhält“.

„Holacracy will die zwischenmenschliche Ebene tilgen“

Die Konflikte müssen auf zwischenmenschlicher Ebene geschlichtet werden jener Ebene, die Holacracy eigentlich zu tilgen versucht.

In der Praxis der Holakratie will niemand diese zwischenmenschliche Ebene „tilgen“. Was man „tilgen“ will ist allenfalls, dass sich diese Ebene anstelle formaler Erwartungen und gegen den Purpose der Organisation über Gebühr ausbreitet und selbige in Geiselhaft der Egos der involvierten Parteien nimmt. Die extensive Referenz auf die Formalstruktur ist hierbei das (manchmal als grell empfundene) Scheinwerferlicht, das die Übergriffigkeit der Menschen gegenüber den Interessen der Organisation sichtbar macht.

Für dieses Problem findet sich im zweckrationalen Baukasten der Holacracy kein passendes Werkzeug. Die Lösungen bei den Organisationen sind dagegen kreativ. Man schafft gesonderte Meetings, in denen persönliche Probleme besprochen werden, bietet Mediationen an und versucht Kommunikationsnormen wie die der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) zu etablieren. Gerade die dort fokussierte Orientierung an den Bedürfnissen der Menschen ist oft in der Lage, Konflikte von der sachlichen Ebene auf eine soziale zu verlagern und so die Handlungsfähigkeit der Organisation zu erhalten.

Es stimmt nicht, dass die Holakratie kein Werkzeug zur Lösung dieses Konfliktes anbietet. Ein alternativer Weg, um den Konflikt aus dem vom Autoren angeführten Beispiel zu klären ist das Mittel der Strategieformulierung. Eine Strategie könnte z.B. festlegen:

„Profit ist sogar noch wichtiger als 100% Nachhaltigkeit“

oder alternativ

„100% Nachhaltigkeit ist sogar noch wichtiger als Profit“

Die Mitarbeiter müssen sich dann in der Priorisierung ihrer Projekte daran ausrichten. Tun sie es nicht, ist Rollen-Neuvergabe noch immer eine weitere Eskalationsoption für die entsprechende Lead Link Rolle. Strategien darf ein Lead Link Rollenfüller alleine festlegen. Es kann aber auch durch Governance festgelegt werden, dass stets ein bestimmter Strategiemeeting-Prozess zur Strategie-Generierung benutzt werden muss, bei dem alle Kreismitglieder beitragen dürfen und bei der das Endergebnis mithilfe des Prozesses integrativer Entscheidungsfindung (und nicht durch persönliche Willkür oder Machtgebahren) finalisiert wird.

Es ist also unzutreffend, dass in Holakratie zur Entscheidung von strategischen Richtungskonflikten nur die zwischenmenschliche Ebene herangezogen werden kann, wie der Autor mutmaßt.

Gleichzeitig ist es richtig, dass in holakratischen Organisation (wie in allen Organisationen) zwischenmenschliche Konflikte auftreten, wie bereits erwähnt. Die Verfassung schweigt sich (in  v4.1) bewusst dazu aus und lässt die Mittel der Wahl der Lösung undefiniert. Das kann man der Holakratie nun ankreiden oder als Zugeständnis werten, dass Holakratie davon ausgeht, dass erwachsene Menschen in der Lage sind, Wege finden, um ihre zwischenmenschlichen Themen selbstorganisiert zu lösen – unabhängig von der Formalstruktur der Organisation. (Man kann sich also wahlweise über das Nichtvorhandensein oder das Vorhandensein von Mechanismen zur Lösung zwischenmenschlicher Konflikte in jeglicher Organisationsweise aufregen – man findet gewiss immer etwas zum sich darüber echauffieren.)

Als Coach empfehle ich aber immer die bewusste Bereitstellung solcher Räume und Funktionen durch die Organisation, z.B. in Form eines „OMG“-Kreises (siehe Link zu einer entsprechenden „Governance App“). So kann die Organisation diese Funktionen unterstützen, denn sie dienen natürlich indirekt auch dem übergeordneten Zweck der Organisation, wie oben bereits erwähnt.

„Der Purpose kann durch informale Machtcliquen korrumpiert werden“

Auch bei der Personalsuche scheint nicht der role fit – also die Passung auf die vorher genau definierte Rolle – allein den Ausschlag zu geben, sondern neben der Purpose-Treue spielen vor allem auch Sympathie und persönliche Bekanntschaft eine wichtige Rolle. Häufig werden Personen aus dem Freundeskreis oder dem Uni-Umfeld der Mitarbeitenden rekrutiert.

Ich glaube, dass das wenig überraschend ist. Wenn ich einen Bewerber habe, der role-fit hat und einen Bewerber, der role-fit hat und mir sympathisch oder bekannt ist, dann werde ich vermutlich letzteren wählen. Das ist aber auch in klassischen Organisationen wahrscheinlich nicht anders. Der Autor scheint anzunehmen, dass Holakratie verlangt, dass Menschen zu Organisations-Robotern werden, die nur auf role-fit, aber nicht auf culture-fit oder personal-fit schauen (weil die Holakratie das verbieten würde oder dergleichen?). Das wäre aber eine alberne und naive Vorstellung. Man merkt hier eine gewisse Holzschnittartigkeit in der Vorstellungswelt des Autors über Organisationsrealitäten.

Eine Gefahr ist jedoch, dass so dauerhaft eine Untergrabung des Purpose möglich wird. Eine Person, die über ein gutes informales Netzwerk in der Organisation verfügt und sich selbstbewusst im Hinblick auf den Purpose zu verteidigen weiß, hat kaum Schwierigkeiten, mit eigentlich problematischem Verhalten durchzukommen. Diese Gefahr steigt, wenn die Holacracy wächst und sich die Deutungshoheit über den Purpose an Stellen festgesetzt hat, wo sie durch besagte informale Netzwerke stark abgesichert ist.

In der klassischen Holacracy böte sich dann die Möglichkeit, den Purpose anzupassen. Die Vorstellung der Organisation als „eigene Entität“, die einen „eigenen Sinn“[12] zum Ausdruck bringt, wird aber spätestens dann zur Phrase.

Der Purpose der gesamten Organisation wird in der Holakratie – wie alle Aspekte der formalen Struktur der Erwartungen – als lebendig und in Veränderung befindlich betrachtet (evolutionär). Der Autor scheint andeuten zu wollen, dass Cliquen informaler Netzwerke in der Holakratie sich verabreden (können), um den Purpose umzudefinieren (vielleicht im Sinne eines ‚Putsches’), was in den Augen des Autors die Möglichkeit auszuschließen scheint, dass etwas anderes als pure Ego-Motivation und unbedingter Wille zur Macht zur Veränderung des Organisationszweckes führen könnte. Ich kann wieder nur auf das Bild des Spiegels rekurrieren. Man sieht in der Holakratie offenbar vor allem das, was man hineinprojiziert.

Es gibt in der Gemeinschaft der Holakratie-Praktizierenden durchaus auch den Anspruch, dass man rezeptiv „lauscht“, was der emergente, evolutionäre Purpose der Organisation ist, der werden will. Das ist freilich ein Prozess mit einer intuitiven, schwerlich formalisierbaren Komponente, für die die Menschen der Organisation temporär ihr gesamtes Sensorium zur Verfügung stellen (Hand, Herz und Kopf). Zugegeben, das ist ein relativ fortgeschrittenes Verständnis davon, wie man zu einem Purpose gelangt, das relativ subtil und nicht weit verbreitet ist. Das bedeutet aber nicht, dass alles nur „Phrase“ ist (eine eher zynische und desillusionierte Sicht der Dinge, für die der Autor mein ganzes Mitgefühl hat). Es gibt meiner Erfahrung nach jedoch mehr Dinge zwischen Himmel und Erde als der Autor der Holakratie zugestehen möchte.


Abschließende Bemerkungen

Ich rätsele immer noch über die tendenziell abwertende Haltung der Autoren in Bezug auf die Holakratie. Aber das vielleicht ist das wie in den Medien: „good news are no news“ und selbst in einer Abteilung die organisationssoziologisch forscht, stehen die Beteiligten nicht außerhalb organisationssoziologischer Zwänge und immanenter informeller Erwartungen über die Natur und Art ihrer Ergebnisse. Offenbar gibt es da die Erwartung, dass herausgefunden werden muss, dass Holakratie nur eine vorübergehende Mode ist. Es ist scheinbar undenkbar, dass hier tatsächlich etwas Neues, Hoffnungsvolles erwächst, das die Arbeit in Organisationen wirklich grundlegend verbessert und zu zufriedeneren Mitarbeitern und erfolgreicheren Organisationen führen könnte.

Kurz: es kann offenbar einfach nicht sein, was nicht sein darf. Echte Wissenschaft stelle ich mir allerdings etwas reflektierter und ergebnisoffener vor.


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veröffentlicht am 23.02.2021

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Dennis Wittrock, M.A.

Dennis Wittrock, M.A.

Zertifizierter Holacracy® Master Coach bei Xpreneurs (offizieller Holacracy Provider), sowie Partner bei encode.org, eine Beratungsfirma, die rechtliche, soziale und finanzielle Grundlagen für Selbstorganisation legt. Autor von „Holacracy verstehen„. Zuvor: interner Holakratie Coach bei Hypoport und Gründer und Co-Direktor der Integral European Conference

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